Präsenz

Spielkarte aus der Publikation »Ins Offene – Kultur der Vielfalt gestalten«

THE ARTIST IS PRESENT
Marina Abramović ist eine 1946 geborene zeitgenössische serbische Performance-Künstlerin. Die Konzepte, die ihre intermedialen Arbeiten (Performances, Videoinstallationen, Fotografien) inspirieren, ebenso wie die Verwendung ihres eigenen Körpers als Subjekt, sind der Schlüssel, um ihre Ideen zu vermitteln. Im Jahr 2010 veranstaltete das Museum of Modern Art (MoMA) in New York City eine umfassende Retrospektive der Arbeiten von Abramović mit dem Titel The Artist Is Present. Ein Teil ihrer früheren Performances wurden von zuvor geschulten Künstler:innen für die Dauer der Ausstellung reinszeniert. Parallel saß Marina Abramović 90 Tage lang ohne Unterbrechung während der Öffnungszeiten des Museums den Besucher:innen direkt gegenüber – schweigend an einem Holztisch auf einem leeren Stuhl und wartete, während sich die Besucher:innen abwechselnd auf den leeren Stuhl setzten. Im Laufe von fast drei Monaten, acht Stunden am Tag, trifft Marina Abramović den Blick von über 1.000 Besucher:innen. Dabei geht es der Künstlerin weniger darum, die Performance zu verstehen, als darum, sich von ihr berühren zu lassen, das heißt, Unsicherheit, Undurchsichtigkeit, Zweifel und Irritation ertragen zu müssen.

Die Körperlichkeit ist sicherlich das Besondere an der Künstlerin, so auch der Blick und das Sehen in ‚The Artist is Present‘. Dieser Blick ist schmerzhaft und löst heftige Affekte aus. Was geschieht in diesem Zwischenraum zwischen der Künstlerin und den Besucher:innen? Was passiert, zwischen zwei Menschen, die sich gegenübersitzen und das wirkliche Dasein eines Gegenübers spüren?

 

Wenn wir uns auf den Stuhl der Künstlerin gegenübersetzen, setzen wir uns zugleich in Beziehung zu uns selbst und zu unserem Gegenüber, als auch zu unserer (Um-)Welt. In dieser multidimensionalen Präsenz, die unabhängig von Zielen, Kontexten, Konzepten und Vorstellungen ist, partizipieren wir am Jetzt-Moment, als Teilnehmende und Gestaltende. Mit Präsenz wird die menschliche Fähigkeit beschrieben, die Gegenwart bewusst wahrnehmen zu können und damit am Jetzt-Moment zu partizipieren. Im ästhetischen Erleben geht es um jene Präsenzen, die sich nicht negieren lassen wie räumliche Verhältnisse, die auf den Körper einwirken, zeitliche Verhältnisse, die als das unmittelbare »Hier und Jetzt« erlebt werden und die uns in Verbindung bringen, mit dem, was sich in Reichweite unseres Körpers befindet. Dabei geht es darum, die Welt im Werden und Entstehen – »in statu nascendi« (Merleau-Ponty 1966, 18) – zu begreifen. Präsenz oder besser Präsentsein ist somit kein statischer Zustand, sondern ein sich ständig veränderndes Kontinuum.

 

In der Gegenwärtigkeit und körperlichen Anwesenheit wird sowohl ein Für-mich-Sein als auch ein Für-die-Anderen-Sein deutlich. Die Besucher:innen sind zugleich ein sehendes und gesehenes Wesen (vgl. Waldenfels 2000, 122). Die Situation der Präsenz, des reziproken Blickens, verändert dementsprechend das In-der-Welt-Sein. Diese beidseitige Präsenz führt einem die Diesseitigkeit, Konkretheit, Realität und Authentizität vor Augen. Präsenz ist nach Fischer-Lichte ein Bewusstseinsprozess, der sich leiblich artikuliert und leiblich gespürt wird (Fischer-Lichte 2004, 171). Daher löst diese Form der leiblichen Ko-Präsenz bei den Besucher:innen ganz unterschiedliche überwältigende Affekte aus.

Literatur

Fischer-Lichte, Erika (2004): Ästhetik des Performativen, Frankfurt a. M.: Suhrkamp.

 

Merleau-Ponty, Maurice (1966): Phänomenologie der Wahrnehmung, Berlin: Walter de Gruyter.

 

Waldenfels, Bernhard (2000): Das leibliche Selbst. Vorlesungen zur Phänomenologie des Leibes, Frankfurt a. M.: Suhrkamp.